Kindgerichtete Sprache bei Dyslexie-gefährdeten Kindern

Zusammengefasst von Naomi Reichmann

Wenn Eltern mit ihren Kindern sprechen, dann passen sie größtenteils unbewusst ihre Sprache an, und benutzen die sogenannte kindgerichtete Sprache (engl. infant directed speech, IDS). Ein Merkmal davon ist u.a. das Hyperartikulieren von Vokalen, d.h. Vokale werden überdeutlich ausgesprochen. Dadurch sind die Sprachlaute für Babys einfacher zu unterscheiden und zu reproduzieren (Kuhl et al., 1997). Es ist bewiesen, dass das Ausmaß der Hyperartikulation der Vokale der Eltern einen positiven Effekt auf die momentanen und späteren sprachlichen Fähigkeiten der Kinder hat (Liu, Kuhl, & Tsao, 2003). Aus früheren Studien ist jedoch bekannt: Wenn Mütter mit ihren Babys sprechen, die gefährdet sind Dyslexie zu entwickeln (= eine neurologische Entwicklungsstörung, die das Lesen und Buchstabieren beeinflusst; Snowling, 2001), dann hyperartikulieren sie die Vokale nicht in ihrer kindgerichteten Sprache. Bei der Interaktion zwischen Müttern und Kindern wird auch Feedback vom Kind an die Mutter übermittelt. Dieses kann ebenfalls die kindgerichtete Sprache der Mutter beeinflussen. Eine neue Studie von Kalashnikova, Goswami, & Burnham (2020) untersuchte, ob die kindlichen Signale an die Eltern die IDS der Mütter von Dyslexie-gefährdeten Babys beeinflussen.
Dabei wurde die Interaktion zwischen Müttern und 9 bis 11 Monate alten Babys, die Dyslexie-gefährdet und nicht gefährdet sind, in drei unterschiedlichen Kombinationen getestet: Die Mütter interagierten mit (a) ihren eigenen Babys, (b) Babys, die nicht ihre eigenen sind, aber den gleichen Risiko-Status haben (z.B. die Mutter eines nicht-gefährdeten Säuglings sprach mit einem nicht-gefährdeten Baby), und (c) Babys, die nicht ihre eigenen sind und den gegenteiligen Risiko-Status haben.
Allgemein überspitzten die Mütter von nicht-gefährdeten Babys die Vokale in ihrer kindgerichteten Sprache, aber Mütter von gefährdeten Kindern nicht, unabhängig davon, ob die Kinder Dyslexie-gefährdet sind oder nicht. Wenn Mütter von nicht-gefährdeten Babys mit nicht-gefährdeten Babys sprachen (unabhängig davon, ob es ihre eigene Kinder waren), produzierten sie mehr hyperartikulierte Vokale, als wenn sie mit gefährdeten Kindern sprachen. Mütter von nicht-gefährdeten Babys passten ihre Vokalproduktion an das Feedback der Kinder an, unabhängig von dem Risiko-Status der Babys. Im Gegensatz dazu passten die Mütter der Dyslexie-gefährdeten Babys ihre Vokalproduktion nicht an.
Daraus resultiert, dass die kindgerichtete Sprache vom (Sprach)Verhalten der beiden Interaktionspartner gegenseitig bestimmt wird: Sowohl die kindlichen, als auch die elterlichen Faktoren sind eine essentielle Grundlage für die Vokal-Hyperartikulation der kindgerichteten Sprache.

Originalartikel:
Kalashnikova, M., Goswami, U., & Burnham, D. (2020). Infant-directed speech to infants at risk for dyslexia: A novel cross-dyad design. Infancy, 00, 1-18. https://doi.org/10.1111/infa.12329

In der Zusammenfassung zitierte Literatur:
Liu, H., Kuhl, P.K., & Tsao, F.M. (2003). An association between mothers‘ speech clarity and infants‘ speech discrimination skills. Developmental science, 6(3), 1-10.
Kuhl, P.K., Andruski, J.E., Chistovich, I.A., Chistovich, L.A., Kozhevnikova, E.V., Ryskina, V.L., … & Lacerda, F. (1997). Cross-language analysis of phonetic units in language addressed to infants. Science, 277(5326), 684-686.
Snowling, M.J. (2001). From language to reading and dyslexia. Dyslexia, 7(1), 37-46.