Meilensteine im kindlichen Spracherwerb

Diese Schritte durchlaufen Kinder im Allgemeinen beim Erwerb ihrer Muttersprache.

Die Sprachentwicklung zeigt von Kind zu Kind individuelle Unterschiede, welche kein Grund zur Sorge sein sollten – das eine Kind lernt schneller, das andere braucht ein wenig länger. Das Alter, in dem ein Kind einen „Meilenstein“ im Spracherwerb erreicht, kann von Kind zu Kind unterschiedlich sein. Wichtig ist und bleibt viel mit dem Kind zu sprechen, ihm/ ihr die Zeit und Gelegenheit zu geben, sich auszuprobieren und so die Welt der Sprache zu erkunden. Diese grundlegenden ersten Schritte im Spracherwerb sind generell sowohl beim Erwerb mit einer also auch mit mehreren Sprachen zu beobachten.

Meilensteine im Spracherwerb

Rhythmus und Melodie

Bereits im Mutterleib erkennen Babys die Stimme der Mutter und können sie von anderen Stimmen unterscheiden. Sie hören Sprache in ‚gedämpfter’ Form, wodurch Laute und Wörter nicht zu verstehen sind, durchaus aber der Rhythmus und die Sprachmelodie. So sind Babys bereits vor der Geburt sensibel für den Rhythmus und die Melodie der Muttersprache. Sie können z.B. Sprachen unterscheiden, die unterschiedliche rhythmische Eigenschaften haben.

(DeCasper et al. 1994, DeCasper & Fifer 1980, DeCasper & Spence 1986, Mehler et al 1988, Moon et al. 1993, Nazzi et al. 1998, Querleu et al. 1988, Richards et al. 1992, Webb et al. 2015)

Wörter filtern

Die Sensibilität für Rhythmus und Melodie besteht auch weiterhin nach der Geburt. In den den ersten Lebensmonaten nutzen Babys diese sprachlichen Merkmale um im Sprachfluss, der zunächst wie ein einziger Strom ohne Grenzen wirkt, wiederkehrende Lautsequenzen zu erkennen. Im Deutschen ist z.B. sehr häufig die erste Silbe eines Wortes betont. Daraus können Babys schließen, dass betonte Silben in der Regel den Anfang eines Wortes darstellen. Hören sie z.B. häufig das Wort „Katze“ im Sprachstrom (Schau mal, die KAtze ist aber schön. ... Da läuft eine KAtze.... Willst du die KAtze streicheln?...), erkennen sie bald, dass es sich dabei um eine bestimmte Lautsequenz, ein Wort, handelt. Diesen Prozess nennt man Sprachsegmentierung. Nach und nach nehmen Babys den Input nicht mehr als endlosen Strom wahr, sondern als einzelne Einheiten.

(Aslin & Newport 1996, Jusczyk et al. 1999; Newsome & Jusczyk 1995, O’Grady 2005, Saffran et al. 1996, Thiessen & Erickson 2013, Zahner 2019, Zahner et al. 2016)

Babbeln

Nachdem Babys wiederkehrende Lautsequenzen im Sprachstrom erkennen, beginnen sie auch nach und nach deren Bedeutung zu verstehen. Zunächst sind das z.B. der eigene Name und Wörter, die sie häufig hören.
Außerdem fangen die Kinder nun an selbst erste Silben zu produzieren. Sie babbeln. Erst einmal sind es bedeutungslose Sequenzen wie „dadada“, „bababa“, etc.

(Bergelson & Swingley 2012, Crain & Lillo-Martin 1999, Mandel et al. 2014)

Babbeln ähnelt Muttersprache

Aus dem anfänglichen Gebabbel wie „dadada“ werden nun Lautsequenzen, die in ihrer Intonation und dem Lautinventar zunehmend der Muttersprache ähneln.

(De Boysson-Bardies et al. 1984, De Boysson-Bardies & Vihman1991, Whalen et al. 1991)

Muttersprachliche Lautwahrnehmung & erste Wörter

Jetzt spezialisiert sich die Lautwahrnehmung der Babys. Während des ersten Lebensjahres sind Babys in der Lage, Laute aus unterschiedlichen  Sprachen zu erkennen und zu unterscheiden. So erkennen z.B. japanische Babys noch den unterschied zwischen /l/ und /r/, obwohl er in ihrer Muttersprache gar nicht existiert. Nach dem ersten Lebensjahr geht diese Fähigkeit nach und nach verloren, weil die Babys nun immer mehr auf ihre Muttersprache spezialisiert sind.

Mit etwa einem Jahr beginnen die Kinder erste „richtige“ Wörter zu artikulieren. Oft sind dies vereinfachte Wörter, die noch nicht alle Laute und Silben enthalten, wie tata (Kater) oder nane (Banane).

(Crain & Lillo-Martin 1999, Tsushima et al. 1994, Werker et al. 1981, Werker & Tees 1984)

2-Wort Sätze

Nachdem die Kinder erste Wörter produzieren, dauert es nicht lange, bis sie aus diesen Wörtern erste kleine Sätze bauen, z.B. „Nane essen“, „Auto (s)pielen“, etc. Interessant ist dabei, dass die Kinder bereits den Wortstellungsregeln ihrer Muttersprache folgen.  Wie in den Beispielen steht im Deutschen das Verb typischerweise am Ende des Satzes, wenn es nicht konjugiert ist. Englische Kinder produzieren dagegen Äußerungen, wie „Eat nana“, „Play car“, etc., in denen das Verb vor dem Objekt steht. Dies ist nämlich die typische Wortstellung im Englischen. Die Kinder können jetzt auch schon eine ganze Menge solcher 2-Wort-Sätze bilden, denn ihr aktiver Wortschatz (d.h. die Wörter die sie produzieren; sie verstehen nämlich schon wesentlich mehr) besteht bereits aus ca. 50 Wörtern.

(Crain & Lillo-Martin 1999, O’Grady 2005, Mills 1985, Tracy & Thoma 2009, Wexler 1994, u.a.)

Grammatische Regeln

Die Kinder erwerben immer mehr grammatische Regeln. Sie sagen z.B. Wörter wie „gefliegt“, „geesst“, „gesitzt“, etc. Diese Formen zeigen, dass die Kinder gelernt haben, wie die Partizip Form gebildet wird. Die generelle Regel im Deutschen ist nämlich ge + Wortstamm + t, wie z.B. „gearbeitet“, „gespielt“, „geschaut“, „gesucht“, ... . Diese Regel wenden die Kinder zunächst auch bei unregelmäßigen Verben an. Solche Formen sind also nicht als Fehler zu bewerten. Sie zeigen, dass die Kinder in einer gewissen Stufe beim Erwerb einer grammatischen Regel sind.
Außerdem verwenden die Kinder nun nach und nach auch sog. Funktionswörter, wie Artikel (der, die, das, ein, eine, ...) oder Präpositionen (in, an, auf, bei, ...). Ihr aktiver Wortschatz besteht jetzt schon aus ca. 400-900 Wörtern.

(Clahsen & Rothweiler 1992, Crain & Lillo-Martin 1999, Mills 1985)

3-Wort-Sätze und mehr

Aus den 2-Wort Sätzen werden nun auch „richtige“ einfache Sätze mit 3 oder mehr Wörtern. Der Wortschatz wächst zunehmend. Die Sätze werden mit der Zeit komplexer und Kinder sind auch bald in der Lage, Nebensätze zu produzieren. Außerdem entwickeln sie ein erstes Verständnis für Zahlen. Die Kinder haben nun bereits ca. 1200-1500 Wörter in ihrem aktiven Wortschatz.

(Crain & Lillo-Martin 1999, O’Grady 2005, Tracy & Thoma 2009)

Grundlagen erworben

Spätestens in diesem Alter sind die wichtigsten Regeln der Grammatik erworben. Die Kinder beherrschen die wesentlichen Satzstrukturen und verwenden die Wortformen und den Satzbau weitgehend nach dem Muster der Muttersprache. Auch Farbbezeichnungen werden meist schon korrekt verwendet. Die Kinder haben nun 1900 Wörter im aktiven Wortschatz.

(Crain & Lillo-Martin 1999, O’Grady 2005)

Noch mehr Satz-Strukturen

Auch im Grundschulalter setzt sich der Spracherwerb noch fort. Die Kinder können nun auch stilistisch und formal komplexere Sätze produzieren. Dabei sind die Kinder auch sensibel für die Komplexität in ihrem Input. Verwenden z.B. Eltern oder Lehrer komplexere Sätze, spiegelt sich dies in den Satzstrukturen der Kinder wider.

(Crain & Lillo-Martin 1999, Huttenlocher et al. 2002, O’Grady 2005)

Stetig mehr Wörter

Die Jahre der Pubertät werden in der Spracherwerbsforschung weitgehend als das Ende des ‚automatischen’ Spracherwerbsprozesses gesehen, wie er im Kindesalter vor sich geht. Danach haben wir ca. 60000 Wörter in unserem aktiven Wortschatz. Natürlich sind wir weiterhin in der Lage unsere Sprachfähigkeiten zu erweitern, sei es in unserer Muttersprache oder in Fremdsprachen. Besonders unser Wortschatz verändert und erweitert sich stetig.

(O’Grady 2005)