Wussten Sie das?

Kind mit Finger im Mund

Was Babys und Kleinkinder schon alles können. Einige interessante und faszinierende Fakten über den Spracherwerb


Sprechen lernen beginnt mit dem Zuhören – bereits vor der Geburt

Der Erstspracherwerb beginnt lange bevor Kinder ihre ersten Worte äußern. Zunächst heißt Sprechen lernen nämlich einfach einmal genau hinzuhören. Dies tun Säuglinge bereits während des letzten Drittels der Schwangerschaft im Mutterleib (DeCasper et al. 1994). Durch die Bauchdecke des Mutterleibs dringen zwar noch keine einzelnen klar verständlichen Laute, doch die Kinder können den Rhythmus, die Melodie der Muttersprache und andere Stimmmerkmale der sprechenden Person wahrnehmen (Querleu et al. 1988, Richards et al. 1992, Webb et al. 2015). So zeigen Studien etwa anhand einer veränderten Herzfrequenz oder Nuckelrate, dass Neugeborene besonders auf ihre Muttersprache oder auch die Stimme ihrer Mutter reagieren, da ihnen diese vertraut sind (DeCasper & Fifer 1980, DeCasper & Spence 1986, Mehler et al 1988, Moon et al. 1993, Nazzi et al. 1998). Auch im Weinen imitieren Neugeborene bereits die rhythmischen und melodischen Eigenschaften ihrer Muttersprache (Mampe et al. 2009).

Babys verstehen mehr Sprachen als Erwachsene

In den ersten Lebensmonaten sind Babys in der Lage, fast alle der rund 800 existierenden Sprachlaute zu unterscheiden – damit sind sie Erwachsenen weit voraus, denn diese haben eine derartige Sensibilität verloren. Während beispielsweise japanische Babys noch den Unterschied zwischen den englischen Lauten /l/ und /r/ hören, haben japanische Kleinkinder im Alter von etwa einem Jahr bereits verstanden, dass dieser Lautunterschied für ihre Muttersprache nicht von Bedeutung ist. Sie nehmen den Kontrast daher – wie auch erwachsene Japaner – nicht mehr bewusst wahr (Tsushima et al. 1994). Wie Janet Werker und Kollegen am Infant Studies Centre der University of British Columbia zeigen konnten, starten Kinder also mit einer universellen Wahrnehmung ins Leben, die es ihnen ermöglicht, jede erdenkliche Sprache zu lernen (Werker et al. 1981, Werker & Tees 1984). Im Laufe des ersten Lebensjahres passt sich die Wahrnehmung dann an die Muttersprache an, sodass die weniger wichtigen Details im Sprachfluss ignoriert werden. Die Entwicklung der frühkindlichen Lautwahrnehmung wird auch im Babysprachlabor der Universität Konstanz untersucht. Eine unserer Studien beschäftigte sich beispielsweise damit, wie deutsche und schweizerdeutsche Babys zwischen 6 und 16 Monaten muttersprachliche und fremdsprachliche Lautkontraste wahrnehmen. Es zeigte sich ebenfalls, dass sich die Wahrnehmung mit zunehmendem Alter verändert.

“magstunocheinlöffelchenapfelmus” – Babys erkennen einzelne Wörter im Sprachstrom

Gegen Ende des ersten halben Lebensjahres beginnen Kleinkinder, den Sprachstrom in einzelne Wörter oder Lautsequenzen zu zerlegen. Wie schwierig das ist, kann man sich am besten vorstellen, wenn man Personen zuhört, die sich in einer Sprache unterhalten, die man selbst nicht beherrscht. Da es in der gesprochenen Sprache kaum Pausen gibt, hört sich alles furchtbar schnell an und man fragt sich, wo die einzelnen Wörter beginnen und enden. Um einen Wortschatz aufzubauen und den einzelnen Wörtern eine Bedeutung zuschreiben zu können, müssen Kinder aber genau diese Aufgabe meistern. Die sogenannte Segmentierung des Sprachstroms gehört damit zu einer der ganz frühen Herausforderungen des Sprechenlernens. Dabei stützen sich die Kleinen auf das, was sie bisher über ihre Muttersprache gelernt haben und entwickeln daraus verschiedene Strategien, um mögliche Wortgrenzen ausfindig zu machen. Was zunächst klingt wie „magstdunocheinlöffelchenvondemleckerenapfelmus“, kann mit Hilfe der bereits vertrauten Merkmale der Muttersprache wie Rhythmus, Betonung und Satzmelodie in seine Einzelteile zerlegt und dadurch verständlicher werden. Auch andere Regelmäßigkeiten und wiederkehrende Sprachmuster helfen bei der Segmentierung (Aslin & Newport 1996, Jusczyk et al. 1999, Newsome & Jusczyk 1995, O’Grady, Saffran et al. 1996, Thiessen & Erickson 2013, u.a.).
Im Babysprachlabor wollten wir herausfinden, welche Rolle die Sprachmelodie bei der Segmentierung spielt. Dazu untersuchten wir, ob 9 Monate alte deutsche Kinder zweisilbige Lautsequenzen wiedererkennen, die sie zuvor in einem kurzen Text eingebettet gehört haben, und ob der Wiedererkennungseffekt je nach Sprachmelodie variiert. Wir haben herausgefunden, dass Babys die Lautsequenzen am besten wieder erkennen, wenn die betonte erste Silbe der Sequenz gleichzeitig eine hohe Sprachmelodie trägt (Zahner 2019, Zahner et al. 2016a). Eine detaillierte Beschreibung der Studie finden Sie hier.

Babys kennen bereits die Bedeutung von häufigen Wörtern

Babys können häufige Lautsequenzen nicht nur aus dem Sprachfluss herausfiltern. Sie kennen auch sehr früh deren Bedeutung. Der Aufbau des Wortschatzes beginnt weit früher als bisher angenommen wurde. Mit circa 4-6 Monaten kennen Kleinkinder schon die Bedeutung häufiger Wörter (Bergelson & Swingley 2012, Mandel et al. 2014), die in ihrer täglichen Umgebung vorkommen. Bevor Kinder also anfangen, sich selbst durch Sprache bemerkbar zu machen, verstehen sie uns Erwachsene schon sehr gut.

Babys kennen die Grammatik ihrer Muttersprache

Im Alter zwischen 6 und 12 Monaten testen Babys ihre „Sprechwerkzeuge“ dann selbst aus. Dabei zeigt schon erstes Gebabbel Merkmale der Muttersprache (De Boysson-Bardies et al. 1984, De Boysson-Bardies & Vihman1991, Whalen et al. 1991) und ist Wegbereiter des selbständigen Sprechens. Auf die ersten noch unverständlichen Laute und Lautsequenzen folgen zunächst einzelne „echte“ Wörter, welche nach und nach mit weiteren Wörtern kombiniert und schon bald zu ersten kurzen Sätzen werden (Crain & Lillo-Martin 1999, O’Grady 2005). Hört man bei diesen Wortkombinationen genauer hin, erkennt man, dass Kinder, bevor sie selbst komplexe Sätze bilden, bereits eine Menge über die Struktur ihrer Muttersprache gelernt haben. Lynn Santelmann und Peter Jusczyk am Infant Language Research Laboratory der Johns Hopkins University in Baltimore haben schon 1998 herausgefunden, dass Kinder grammatikalisch korrekten Strukturen aufmerksamer zuhören als solchen, die kleine Fehler aufweisen (Santelmann & Jusczyk 1998). Ebenso folgen auch schon erste eigene, noch wacklige Sätze, welche aus wenigen Worten bestehen, den Regeln der Muttersprache (Crain & Lillo-Martin 1999). Dass Kinder grammatische Regeln erworben haben, zeigt sich z.B. wenn sie Formen wie „ich habe ge-ess-t“ (statt gegessen) produzieren (Clahsen & Rothweiler 1993, Mills 1985). Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Kinder die reguläre Bildung des Partizip Perfekt mit der Vorsilbe ge- und der Nachsilbe –t (wie in gearbeitet, gekocht, gesucht, ...) gelernt haben. Die unregelmäßigen Formen, wie „gegessen“ werden kurze Zeit später ebenfalls erworben.

Babys sind besonders aufmerksam, wenn sie kindgerichtete Sprache hören

Wenn Erwachsene oder auch ältere Kinder mit Kleinkindern sprechen, verwenden sie häufig eine besondere Art des Sprechens, die dem Sprachniveau des Gegenübers angepasst ist. Diese so genannte „child-directed speech“ (kindgerichtete Sprache) zeichnet sich zum Beispiel durch eine höhere Stimmlage, langsameres und lauteres Sprechen, sowie längere Pausen und eine stark variierende Intonation aus (Fernald 1989, Soderstrom 2007). Die Sätze sind kurz, bestehen aus einfachen Wörtern und werden in ähnlicher Form oft wiederholt. Meist wird über die Dinge gesprochen, die im Augenblick präsent sind – das Bilderbuch, das gerade angeschaut wird, der Brei, der gelöffelt wird, oder die Hose, die es nach dem Wickeln wieder anzuziehen gilt. Zusätzlich unterstützt wird diese besondere Sprechweise durch Mimik, Gestik, Blickkontakt und Berührungen. Auf diese Weise sollen sich die kleinen Gesprächspartner direkt angesprochen fühlen und die Aufmerksamkeit des Sprechers teilen. Inwieweit sich diese Art der Kommunikation positiv auf den tatsächlichen Spracherwerb auswirkt, ist dabei umstritten. Um mehr Wissen darüber zu gewinnen, wurde im sog. ManyBabies Projekt in 67 Babysprachlaboren in 16 verschiedenen Ländern der Welt untersucht, wie Babys auf kindgerichtete Sprache reagieren. Es bestätigten sich nun auf Grundlage dieser sehr breit angelegten Datenerhebung die Ergebnisse einer früheren Studie (Cooper & Aslin 1990), dass Babys für eine derartige Sprechweise sehr empfänglich sind und ihr mehr Aufmerksamkeit widmen (ManyBabies Consortium in press). Darüber hinaus haben wir im Babylab untersucht, welche Sprachmelodien und Betonungsmuster besonders häufig vorkommen, wenn Mütter mit ihren Babys sprechen (Zahner et al. 2015, 2016a,b). Diese häufigen und gut erkennbaren Muster sind zum Beispiel beim Wörter Lernen sehr hilfreich. Hier gelangen Sie zur Beschreibung der Studien.

Mit Kindern sprechen

Der Erstspracherwerb gestaltet sich als ein kontinuierlicher Prozess, in dem sich Kleinkinder schrittweise vorantasten. Es sind dabei die ganz alltäglichen Gesprächssituationen, welche Aufschluss über die Regelmäßigkeiten der Muttersprache geben und diese den Kindern näher bringen. Um Sprechen zu lernen, brauchen Kinder also jemanden, der mit ihnen spricht – je mehr, desto besser. Radio oder Fernsehen können diesen direkten sozialen Austausch dabei nicht ersetzen. Patricia Kuhl und Kollegen an der University of Washington fanden z.B. heraus, dass englischsprachige Babys auch noch im zweiten Lebensjahr für die chinesische Sprache empfänglich waren, wenn jemand regelmäßig mit ihnen Chinesisch sprach. Hörten sie allerdings nur chinesische Tonaufnahmen oder schauten chinesisches Fernsehen, blieb eine derartige Sensibilität nicht bestehen (Kuhl et al. 2003). Diese und weitere Studien zeigen, dass eine gemeinsame Umwelt, gemeinsames Erleben und ein gemeinsamer Blick auf die Welt notwendig sind, um wirklich miteinander zu kommunizieren und den Spracherwerb in Gang zu bringen. Hilfreich sind tägliche Routinen wie gemeinsame Mahlzeiten, Gute-Nacht-Rituale, Windeln wechseln, Vorlesen oder gemeinsames Spielen.

Spracherwerb findet auch noch im Grundschulalter statt

Schritt für Schritt werden die Sätze komplexer, sodass die Kinder bis zur Einschulung schon wahre „Meister im Diskutieren“ sind. Aber auch dann geht das Lernen weiter. Kinder bauen ihren Wortschatz fortlaufend aus und lernen im fortgeschrittenen Grundschulalter weitere sprachliche Mittel wie etwa Ironie zu verstehen (Schulz 2007, Winner 1988).